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Theodor Heuss über das Brackenheim seiner Kindheit

Theodor Heuss über seine Kindheit in Brackenheim

"...mit reichem Weinbau an den Hängen: Brackenheim."
"...mit reichem Weinbau an den Hängen: Brackenheim."

Brackenheim war damals ein abseitiges Oberamtsstädtchen von etwa fünfzehnhundert Einwohnern, ohne Bahnverbindung, ohne Industrie, mit rein ländlichem Charakter. Das Zabergäu, zwischen bewaldeten Höhenzügen des Heuchel- und des Strombergs, ist ein angenehm bewegtes, breites Tal mit fruchtbarem Ackerboden und mit reichem Weinbau an den Hängen. Mein Vater hatte das Straßenwesen des Bezirks unter sich und mußte viel unterwegs sein. Daran knüpft sich frühes bildhaftes Bewahren: ein hohes Veloziped, das zu besteigen für den großen hageren Mann schon ein Abenteuer war. Es ist dann auch durch ein Dreirad abgelöst worden, bei dem sich einer der kleinen Buben auf die Lenkstange packen ließ. Ein großer Hund begleitete die Fahrten, ein ungutes, scharfes Tier, das wir Kinder, auf den Tisch kletternd, mehr mit Angst als mit Fröhlichkeit zurückerwarteten. Der Caro wurde abgeschafft, als er einmal den ältesten Bruder biß. Dieser Kindheitseindruck hat lange nachgewirkt. Es blieb mir, bis ich mit dem eigenen Schäferhund eine dicke Freundschaft schloß, durch viele Jahre gegenüber den Hunden eine ausweichende Unsicherheit, die mich selber ärgerte.

Das Haus, in dem Familie Heuss wohnte, "lag in einem Garten unmittelbar vor dem altwürttembergischen Schloß" (Foto).
Das Haus, in dem Familie Heuss wohnte, "lag in einem Garten unmittelbar vor dem altwürttembergischen Schloß" (Foto).

Das Haus, in dem wir wohnten, lag in einem Garten unmittelbar vor dem altwürttembergischen Schloß. Dies ist ein etwas klobiger Renaissancebau, der Innenhof durch einen schön geschwungenen Bogen geschieden -, immerhin eine wunderbare Nachbarschaft mit dem ständig rauschenden Brunnen, dem hallenden, dunklen Torgang, den offenen Holzarkaden, tiefen Kellern und unermeßlichen Dachräumen. Nicht als ob das alles unser Herrschaftsgebiet gewesen wäre, das Schloß war ja Amtsgebäude; aber Spielgefährten wohnten darin, und auch der kleine Knirps durfte an den Entdeckungsfahrten ins Unheimliche und Fremde teilnehmen. Im übrigen hatten wir stattliche Gärten zur Verfügung; durch einen floß die Zaber, dort gab es auch einen spärlichen Badeplatz.

Wir waren drei Brüder, Ludwig (1881), Hermann (1882) und ich (1884). Der Letztgeborene zu sein bedeutete Nachteile; ich mußte die Sachen der Älteren auftragen. Doch entzog ich mich dem bald, indem ich die Brüder im Körperwuchs überholte. Als Gewinn des Zustandes mochte gelten, daß die Erziehung der Eltern selber schon einiges weiter gediehen war, wenn man sündenfällig wurde. Die Pionieraufgabe war für den Erstgeborenen bei dem jähen Temperament des Vaters nicht immer angenehm. Die Brüder besuchten in Brackenheim noch Volksschule und ‚Lateinschule’. Diese war eine liebenswürdige württembergische Eigentümlichkeit, die man 1933 leider auswischte: in den kleinen Amtsstädtchen gab es unter dem ‚Präzeptor’ Vorschulen für das Gymnasium, eine Erleichterung für die Beamten mit ihren Schulplänen für die Kinder, ein geistesgeschichtlich fruchtbares Sammelbecken für Begabungen des ländlichen Mittelstandes. Ich selbst wurde in die ‚Kinderschule’ geschickt...

...als Kind soll ich recht brav gewesen sein. Lange musste ich in Mädchenröcken herumlaufen, weil meiner Mutter deren Fertigung bequemer war; es hat mich weiter nicht angefochten. Ich wurde auch in die alte schöne Kirche mitgenommen, was mir später als verfrüht vorkam; man lobte mich, weil ich andächtiger stillsitzen konnte als Hermann... Wir waren beim Bauern und Handwerker zuhause, liefen hier mit, halfen dort aus.

...die achtzehn Pfennige wanderten dann zu Bossaller, wo es Brocken, Zuckerzeug, zu kaufen gab...
...die achtzehn Pfennige wanderten dann zu Bossaller, wo es Brocken, Zuckerzeug, zu kaufen gab...

So habe ich mit fünf Jahren in Brackenheim mein erstes Geld verdient, was aber zu meinem Erstaunen bei den Eltern keinen so günstigen Eindruck hervorrief wie bei mir. Ich kann heute noch die Scheuer bezeichnen, in die ich gerufen wurde. Es herrschte in dem Halbdunkel eine süßliche, staubige Luft, Weiber und Kinder saßen auf Schemeln vor Weidenkörben, auf der Tenne lagen grünlich-graue Haufen, von denen man sich einen Arm voll wegholte: das war das Hopfenzopfen. Für das Simeri (ein württembergisches altes Maß) bekam man sechs Pfennige. Auch ich bekam sie mit Selbstverständlichkeit und nahm sie ebenso, achtzehn Pfennige. Sie wanderten dann zu Bossaller, wo es Brocken, Zuckerzeug, zu kaufen gab. Ich hielt den klangvollen Namen für eine Berufsbezeichnung, da dieses Geschäft der einzige Laden solcher Art war, und antwortete damals auf die Frage nach meinen künftigen Berufsabsichten, ich wolle Bossaller werden.“ Aus "Theodor Heuss: Vorspiele des Lebens – Jugenderinnerungen“, Seite 46 - 50, Tübingen 1953